Im Jahr 2024 hat unsere Mitgliederversammlung den Beschluss gefasst, unseren Saal nach Reinhold Liesegang zu benennen. Der Beschlussfassung war eine intensive Beschäftigung einiger Mitglieder mit der Geschichte unseres Vereins voraus gegangen.
Die Naturfreunde wurden 1905 im Kaiserreich gegründet. Die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen der damaligen Zeit, aber auch das Privateigentum von Kirche und Adel an der Natur, wurden nicht mehr akzeptiert. „Berg Frei“ war der Gruß der Naturfreunde und ihre politische Forderung zugleich.
Die Katastrophe des ersten Weltkriegs konnte das Selbstbewusstsein und Anwachsen der Arbeiterbewegung nicht aufhalten. Die Novemberrevolution im Jahr 1918 brachte grundlegende soziale Umwälzungen und neue Rechte und Möglichkeiten. Reinhold Liesegang wurde in diese Zeit der Umwälzungen und sozialen Kämpfe hinein geboren. Er hat sich für die Idee eines besseren Lebens eingesetzt und dafür gekämpft. 1933, nur 15 Jahre nach der Gründung der ersten deutschen Demokratie, haben die Nazis alle Errungenschaften dieser Jahre zunichte gemacht und die Verteidiger von Demokratie und Freiheit mit Terror und Mord unterdrückt.
Die Naturfreunde wurden verboten, Häuser und Eigentum beschlagnahmt und aktive Mitglieder waren Repressalien ausgesetzt. Der Naturfreund Reinhold Liesegang war eines der ersten Opfer des Naziterrors. Sein Tod soll uns mahnen, nichts zu vergessen und widerständig zu sein gegen alle Versuche, faschistisches Gedankengut wieder hoffähig zu machen. Die Benennung unseres Saals möge ein kleiner Beitrag dazu sein.
– Olivier Höbel
Liesegang war Sohn einer Arbeiter- und Sozialistenfamilie und eines von fünf Geschwistern. Von seiner Familie wurde er sozialistisch geprägt. Er wurde kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges zur Marine eingezogen. Nach dem Krieg war er Mitglied der "Roten Armee", die in Braunschweig durch Stürmung des Schlosses den Herzog Ernst August von Braunschweig zwang abzudanken.
Nach Austritt aus der Armee war er zunächst arbeitslos, danach in der Firma "Voigtländer" als Schweißer tätig. Dort wurde er Mitglied einer Gewerkschaft und später der KPD. Außerdem gehörte er dem "Verein für Volkssport" (VfV) an. Er heiratete und gründete eine Familie, mit der er im Braunschweiger Arbeiterviertel Belfort lebte, wie viele andere Kommunisten und Sozialdemokraten. Am 30.06.1933 wollte die SA ihn zu Hause festnehmen und in die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) bringen, doch er war nicht am Ort. Man hinterließ die Aufforderung, sich wegen eines Verhörs selbständig zur AOK zu begeben. Trotz Warnungen von Verwandten und Bekannten, die von den Folterungen im AOK-Gebäude gehört hatten, ging Liesegang der Aufforderung nach. Am 04.07.1933 wurde er von der SA zusammen mit zehn anderen Männern nach Rieseberg gebracht und dort ermordet. Es ist anzunehmen, dass Liesegang von den schweren Misshandlungen in der AOK nicht verschont geblieben ist.
Q.: Gehrke (1961); Oehl (1981)
Im Jahre 1933 erhielten die Angehörigen der Rieseberg-Opfer lediglich einen formlosen und die Tatsachen verschleiernden Bescheid über deren Verbleib. Erst 20 Jahre später folgte von der Regierung eine weitere Nachricht.
Laut Protokoll der ersten Zusammenkunft der Naturfreunde Braunschweig nach dem 2. Weltkrieg am 21.10.1945 war R. Liesegang Mitglied der Naturfreunde. Seiner wurde gedacht als „Blutopfer des Naziterrors“. Es wurden noch „gefallene“, „Opfer von Bombenangriffen“ und „verstorbene“ aufgelistet und ihrer gedacht.
(Anmerkung von: Arno Jesche-Neuenroth)